Ein neues Land für alle

Wenn ein Buch derzeit allerorten, besonders aber in den Ecken und Enden des Landes, „gelesen“ werden sollte, ist es Shaun Tans Ein neues Land.
Es gibt kaum eine Möglichkeit, sich anschaulicher, unvoreingenommener oder schöner mit dem Thema der Ankunft in einem neuen, unbekannten Land nach der Flucht aus der Heimat auseinanderzusetzen. Dieses Buch schafft das, was gute Literatur am besten kann – einen buchstäblichen Blick in andere Lebenswelten eröffnen. Über die traumhafte, aber doch verständliche Bildsprache kann man sich hineinfühlen in einen Menschen, der sich in einer völlig neuen, unverständlichen Umgebung zurechtfinden muss, allein, ohne seine Familie, ohne Anhaltspunkte, wie dieses neue Leben funktionieren wird. Vor den Wundern (oder Schrecken?) der phantastischen neuen Stadt steht man als Leser genau so verloren wie der Held der Geschichte, und findet sich wie er erst nach und nach zurecht.

Ein neues Land von Shaun TanDer Kniff bei Ein neues Land ist, dass sich Shaun Tan als Ausdrucksmittel allein auf Bilder verlässt, deswegen steht das Lesen weiter oben auch in Anführungszeichen. Dadurch ist es im Grunde reines show, don’t tell, die Gedanken und Interpretationen des Gezeigten liegen allein beim Betrachter. Es gibt weder einen erhobenen Zeigefinger, noch wird auf die Tränendrüse gedrückt. Die Wirkung von Ein neues Land erwächst daraus, dass die Bilder das Geschehen jeglichem realen Kontext, in dem sich der Betrachter selbst positionieren könnte, entheben, so dass einem nichts anderes übrig bleibt, als die Erfahrungen aus der Geschichte aufzunehmen.

Jemanden, der sich nicht in irgendwas hineinversetzen will, erreicht man natürlich auch mit einem solchen Buch nicht, denn die Bereitschaft, sich auf die Bildwelten einzulassen, ist die eine Voraussetzung, die dann doch gegeben sein muss, um sich auf Ein neues Land einen Reim machen zu können. Mit nur einem Fünkchen Neugier ist es aber ein Buch, mit dem man sich Verständnis und Empathie für eine Situation aneignen kann, der man selbst – hoffentlich – nie ausgesetzt sein wird.

Den Schrecken, die derzeit die Nachrichten dominieren, wird das Buch nicht gerecht. Es geht aber auch nicht um die Flucht, sondern um die Ankunft, wie der Original-Titel The Arrival nahelegt. Und das ist auch das, worauf es hier und jetzt ankommt, oder?

Deswegen: Lesen, verschenken, gemeinsam anschauen. Kann das neue Land nur besser machen.
fleuron_fb
Ein neues Land: 2008, ISBN: 978-3-551-73431-0
The Arrival: Australien 2006
Ausführliche Besprechung und mehr Infos über Shaun Tan bei Bibliotheka Phantastika.

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