Vorgestern war ich im Kino, und meine (entfernten; der Saal war sehr schlecht besucht) Sitznachbarn haben bei einem 40 Jahre alten Film, dessen Schockeffekte äußerst zahm sind, immer wieder entsetzt aufgestöhnt, jedes Mal, wenn ein korrupter Polizist eine Autotür aufreißt, und erst recht beim überraschenden Ende. Meine erste Reaktion darauf: Was soll’n das jetzt werden? Die zweite: Warum? Es waren definitiv unironische, unkontrollierte Emotionsäußerungen, wie man sie eigentlich nur Kindern oder Leuten zugesteht, die sehr lange nicht (oder noch niemals) im Kino waren. Oder Menschen, denen es aus anderen Gründen nicht gelingt, eine Distanz zum Geschehen auf der Leinwand aufzubauen.
Meine dritte Reaktion oder vielmehr sich daraus ergebende Frage war aber: Warum nicht?
Es gab eine Zeit, da war es völlig ok, laut und öffentlich die unmittelbare Reaktion auf eine Geschichte kundzutun. Wir erleben in der Regel eher still, und wenn man etwas von sich gibt, dann meist ironisch gefärbt oder zumindest sehr bewusst, auf keinen Fall jedoch unbewusst und unkontrolliert. Ausnahmen sind gerührte Tränen (z.B. wenn Leonardo di Caprio ertrinkt, aber das ist auch schon wieder eine Weile her und tendentiell geschlechtsspezifisch), und erschrockenes Aufkreischen (schon wieder geschlechtsspezifisch) beim Schocker.
Was ich im Kino mitgehört habe, war eine sehr ursprüngliche Reaktion auf das Geschehen, die nichts zurückhält. Schon interessant, dass wir eine solche Reaktion aus unserem Auftreten als aufgeklärte Erwachsene verbannt haben, obwohl die Leinwände, Bildschirme und Buchseiten dieser Welt von ziemlich vielen Geschichten-Enthusiasten belagert werden. Obwohl wir gerade im Kino unbedingt berührt, überwältigt, überrascht werden wollen. Aber dem Ausdruck verleihen? Das wäre kindisch oder einfältig.
Ein Grund ist mit Sicherheit, dass wir ganz schön abgeklärt sind und einiges passieren muss, damit uns etwas vom Hocker reißt. Wir haben unser Leben lang vermutlich viel mehr Geschichten gehört, gesehen und gelesen als alle, die vor uns kamen. Man reagiert seltener und weniger stark, und wenn, dann auf bestimmte erlernte Weise: kontrolliert, artikuliert, oder mit Ironie-Fluchtmöglichkeit.
Dass wir alle nur furchtbar höflich sind und unsere Sitznachbarn nicht mit Geräuschen belasten wollen, kann man meines Erachtens übrigens ausschließen: Der kultivierte Kinobesucher darf bei Komödien doch unwillkürlich laut lachen, oder? Und sich ärgern auch, wenn der Film Mist ist, und aufstöhnen, wenn er noch ein bisschen dämlicher wird.
Das heißt, ganz bestimmte Emotionen werden nicht ausgedrückt (und auch seltener empfunden?): Staunen, Erschrecken, Anderswünschen („Nein, geh nicht ins oberste Stockwerk!“), zum Teil auch Trauer und Begeisterung.
Wir halten die Geschichte auf Abstand.
Ich hoffe im übrigen, meine gedankenanstoßenden Mitkinogänger haben sich hervorragend unterhalten und nicht zu schlimm erschreckt.
Jetzt bin ich aber neugierig, welcher Film das war. “Serpico”?
Zum Eintrag selbst schreibe bei Gelegenheit noch mehr.
Jetzt bin ich aber doch neugierig: Welcher Film genau war das denn?
Im Kino würde ich mich wahrscheinlich nicht zu solchen Gefühlsäußerungen hinreißen lassen, weil ich stets befürchten würde, dass andere Leute das peinlich finden. Natürlich sollte mir das eigentlich egal sein, aber ich bin halt so …
Anders sieht es da schon aus, wenn ich für mich alleine einen Film anschaue. Da habe ich schon häufiger mal geweint. Nicht, weil das Dargestellte so traurig gewesen wäre, sondern weil es mich so tief berührt hat. Zum Beispiel die Schlussszene mit den ‘Buchmenschen’ in Truffauts “Fahrenheit 451” oder die Begräbnisfeier am Ende von Kurosawas “Träumen”.
Pogopuschel war schneller … 🙂
Es war “Der Clou” 😉
Aber gut geraten, Pogo, “Serpico” wird am 8. Januar gezeigt, ich hoffe, da habe ich auch Zeit.
@Peter: Ja, dass man sich in der Öffentlichkeit befindet, “verfälscht” die Reaktion ein bisschen. Aber das hat mE nicht nur persönliche Gründe, sondern auch damit zu tun, mit welchen Wertigkeiten emotionale Äußerungen belegt sind.
Mich bringen sehr bewegende Szenen allerdings auch zum Weinen.
Mit “Der Clou” hätte ich jetzt nicht gerechnet. Das ist ja wirklich kein Schocker. 🙂 Aber ein tolles Meisterwerk.
Von selbst hätte ich nicht mal bemerkt, dass der Film überhaupt solche Suspense-Momente enthält. 😀
Wenn ich dieses Jahr nicht im Kino gewesen wäre, hätte ich wohl noch nie live selbst erlebt, wie Menschen vor der Kinoleinwand ihren Gefühlen – welchen auch immer – freien Lauf lassen.
Dann kam aber Conjuring (welcher bei mir auch spärlich besucht war) und ich war überrascht wie oft man gehört hat: “Mach doch nicht so ein scheiß! Bleib da weg! Geh doch nicht da rein!”
Das schlimme ist, das hatte auch Auswirkungen auf mich 😀
Selten hab ich mich über die anderen Kinogänger so amüsiert wie an diesem Tag, was mir aber stellenweise etwas die Spannung genommen hat.
Das Gesamterlebnis konnte es trotzdem nicht trüben, da ich den Film echt klasse fand 🙂