Als Leserin bin ich vom Könnte fasziniert: Könnte in diesem Wald ein Ungeheuer hausen? Könnten sich die beiden trotz widriger Umstände anfreunden? Könnte das der verlorene Sohn des Königs sein? Solcherart Fragen sorgen dafür, dass man umblättert. Sie aktivieren ein Spannungsfeld, dem man sich im besten Fall nicht entziehen kann.
Beim Schreiben muss ich genau diese Faszination transportieren, daher ist es nicht unerheblich, sich auch bei eigenen Geschichten vom Könnte faszinieren zu lassen – und die Faszination für das Könnte ist der Nährboden für wunderbare Geschichtenideen und kühne Entwürfe. Dann allerdings kommt es auf zwei Dinge an:
Erstens muss man früher oder später vom Könnte ins Ist überwechseln. Man muss konkret machen, was passiert, zutrifft, gesetzt ist. Man muss das wunderbare Gefühl des Könnte aufgeben, obwohl nichts schillernder, verwunschener, betörender ist. Könnte funkelt und birgt alle Möglichkeiten in einer, Könnte ist das Wissen, dass es auch noch ganz anders sein könnte, als man es sich zunächst ausmalt.
Wenn man den Schritt vom Könnte ins Ist macht, geht immer ein Zauber verloren. Und nur selten kann ein Ist per se mit dem Könnte mithalten – wie könnte es auch? Es ist ja nur eine von unzähligen Möglichkeiten, ein eingedampftes Partikelchen des großen Könnte-Universums. Das Gefühl kennt man vom Lesen, wenn man zu lange auf die Offenbarung gewartet hat, die dann irgendwie doch nicht mit den Erwartungen mithalten kann. Oder wenn das, was man erwartet hat, auf ungute Weise völlig anders ist als das, was man bekommt.
Beim Schreiben bewegt man sich auf einem schmalen Grat: Man muss sich selbst mit dem Könnte faszinieren und darf sich vom Ist nicht so sehr enttäuschen lassen, dass die Motivation flöten geht.
Zum Zweiten lohnt es sich, das Könnte für die Leserschaft etwas länger aufrechtzuerhalten. Nur weil man ein großartiges Ist gefunden hat, muss man das dem Publikum nicht gleich auf die Nase binden, denn das will ja noch eine Weile im Könnte schwelgen … und umblättern, um herauszufinden, ob was dran sein könnte. Leser und Leserinnen brauchen die Räume, die durch das Könnte heraufbeschworen werden und in denen sich die Magie des Lesens entfaltet: Tausend Fragen, tausend Vorstellungen und ein Mosaik aus Möglichkeiten, die alle in der Geschichte mitschwingen. Wenn das Ist zu früh dazwischenfunkt und in diesem dunkel schillernden Raum die Neonröhre anschaltet, sieht danach womöglich alles ziemlich öde aus.
Wie aber vermeidet man eine Enttäuschung durch das Ist – sowohl für die schriftstellerische Motivation als auch für die Leserschaft? Wenn man glaubt, das Ist muss pure Magie sein, um dem Könnte irgendwie gerecht werden zu können, wird es sehr schwierig. Es gibt nicht immer eine unverbrauchte, atemberaubende Lösung – schon gar nicht in einer Welt, die einem ständig Atemberaubendes auftischen möchte. Das kann also nicht (alleiniges) Ziel der Konkretisierung des Könnte sein. Bevor man aber gar kein Ist findet oder vor den Möglichkeiten des Könnte in Schockstarre verfällt, weil sich die magische Idee einfach nicht einstellen will, ist es vielleicht besser, sich für ein ganz profanes Ist zu entscheiden und dann etwas daraus zu machen, das eines Könnte dennoch würdig ist. Dass es womöglich ohnehin viel mehr darauf ankommt, wie man die Idee letztlich umsetzt, weiß jeder, der schon mal Neonröhren abmontiert und stattdessen Lampions aufgehängt hat.
Das “Ist” enttäuscht wahrscheinlich vor allem dann, wenn es an seinem eigenen Anspruch scheitert, d.h., wenn der Autor es mit einer Grandiosität schildert, die dem Gegenstand unangemessen ist, der vom letztlich nur bedingt in geordnete Bahnen zu lenkenden “Könnte” des Lesers mühelos übertrumpft werden kann, aber trotzdem so tut, als könnte er es schlagen. Insofern ist das Wichtige am profanen “Ist” wohl auch, es mit einer gewissen Bescheidenheit zu präsentieren, die ohne übertriebene Pauken und Trompeten auskommt.
Ich stelle mir das so vor: wenn ein Könnte zu einem Ist wird, fällt es dabei ja nicht in Nichts, sondern es stößt dabei auf ein War-Bisher. Dieser “Zusammenprall” gebiert dann wiederum neue “Könntes”… Oder anders ausgedrückt: jedes Ist kann zu einem neuen Könnte werden, zu einer Tür zu neuen Möglichkeiten. Kommt darauf an, ob man die dem Ist an sich inhärenten Möglichkeiten nutzt oder nicht, und das hängt natürlich davon ab, was man als Schreiberling will. 😉
@Susanne: Das gefällt mir! Das ist eine sehr schöne Umschreibung dafür, warum es manchmal mit dem “Ist” eben doch klappt (und man das “Ist” auch zum Weitermachen, für neue “Könnte” braucht).