Lesenswertes am Sonntag (2)

Nachdem ich mir letztens interessantere E-Book-Visionen gewünscht habe, bin ich inzwischen ein Stück weit in die “interactive fiction” eingestiegen und habe mir angeschaut, was es da an neueren Sachen gibt (und ob das Ganze seit MUDs und Co. weitergekommen ist). Ich bin tatsächlich auf sehr interessante Texte gestoßen, die aus ihrer Interaktivität eine Menge herausholen und auch herzlich wenig mit dem klassischen Abenteuerspielbuch zu tun haben.
Anfangs ist die Erzählweise womöglich etwas gewöhnungsbedürftig, aber ich kann versprechen: Bei beiden hier vorgestellten Texten lohnt sich das Dranbleiben über die Einstiegsphase hinaus. Vom Umfang her würde ich sagen, dass sie beide einer Kurzgeschichte gleichkommen – es dauert also auch nicht ewig, dann hat man sie, tja, was … durchgelesen? Durchgespielt?

Horse Master
“The Game of Horse Mastery” von Tom McHenry wirft einen mitten hinein in eine surreale Zukunftswelt, in der die verzweifelte Hauptfigur alles auf eine Karte setzt: Ein Horse Master zu werden, was Reichtum und Glück in einer Welt verheißt, die davon nicht gerade reichlich hat. Und während man sich noch fragt, was zur Hölle man da eigentlich treibt, steht man schon vor Entscheidungen. Immer wieder werden in dieser Geschichte Erwartungen (auch an den Ablauf eines solchen Spiels) auf den Kopf gestellt. Die bittere Realität, die dadurch immer weiter zum Vorschein kommt, ist alles andere als erbaulich, auch wenn – gerade auch durch den bizarren Stil – immer wieder Schönheit durchschimmert.
Eine Leseerfahrung, die durch jedes weitere Wort vorab eigentlich nur geschmälert werden kann. Aber unbedingte Empfehlung!

my father’s long, long legs
Michael Lutz’ Text ist eindeutig mehr auf der Geschichten- als auf der Spielseite. Anfangs ist alles relativ linear – man deckt die Familiengeschichte der Hauptfigur auf, die ein merkwürdiges Geheimnis birgt. Es ist faszinierend, was für eine Dynamik sich auch nur aus dem (obligatorischen) Enthüllen des jeweils nächsten Teils ergibt. Die Geschichte ist großartig erzählt und kann jedem Fan gediegenen Grusels wärmstens ans Herz gelegt werden. Sie baut eine klaustrophobische, dichte Atmosphäre auf und nutzt ihre Interaktivität letztlich für sehr interessante Kniffe. Spannend, metaphorisch und ziemlich schaurig, wäre die Geschichte an sich schon eine brillante Kurzgeschichte, doch die Interaktivät gibt den letzten Schliff. An einigen Stellen übrigens nicht verzagen, es dauert ein Weilchen, bis sich etwas tut!

Beide Geschichten sind von 2013 und mit der Open-Source-Engine Twine verfasst. Ziemlich spannende Sache, finde ich! Ich werde mich weiter einlesen und hätte auch durchaus Lust, mal selbst eine Geschichte auf die Beine zu stellen.

5 Kommentare

  • Hast du schon mal bei Fear of Twine (http://fearoftwine.com/) reingeschaut?

  • Simone schrieb:

    Oh wie schön, danke für den Link!
    Ich komme mal wieder spät zu der Party, was?
    Ich hatte den Link tatsächlich schon gesehen, als er vor ein, zwei Wochen oder so rumgereicht wurde, und sogar geklickt, aber das war wohl für mich nicht der richtige Zeitpunkt. Da hat mir der Kontext und die Motivation gefehlt, auf jeden Fall dachte ich, “nee, jetzt nicht” und habe mich auch gar nicht näher damit befasst, worum es geht. Aber jetzt: Perfekt!
    Vielleicht kann ich dann hier noch um ein paar konkrete Tipps erweitern, wenn ich mich eingelesen habe.

  • Um ehrlich zu sein, ich habe noch keine der Twines (sagt man das so?) vollständig gelesen / gespielt.
    Ich wüsste nicht einmal etwas von der Existenz von “Fear of Twine”, wenn ich Richard Goodness, Eric Brasure & Jonas Kyratzes nicht aus völlig anderen Gründen auf Twitter etc. folgen würde. Aber ich habe das Gefühl, dass sich da einige recht interessante Stücke in dieser “Ausstellung” befinden könnten.
    Apropos “Party”: Wenn ich so lese, was Richard & Jonas dazu sagen, scheint mir “Fear of Twine” in der Gamer-Community leider nicht die Aufmerksamkeit zu erhalten, die man dem Projekt wünschen würde.

  • […] Nachtrag: Simone Heller empfiehlt zwei interessante E-Books vor, die versuchen, das Medium zu ihrem Vorteil zu nutzen: https://www.simone-heller.de/lesenswertes-am-sonntag-2/ […]

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