Wie Bücher, nur anders

Es wird immer wieder viel über E-Books geredet und gestritten (auch im bp-Forum), aber ich vermisse neben Piraterie, DRM, Diskussionen über die Distribution und alle anderen Rahmenbedingungen eine Auseinandersetzung mit der Frage, inwiefern das Format selbst aufs Lesen und auf die Inhalte wirken kann.
Ein Hinweis darauf sind die Leute, denen das Lesen mit einem Reader plötzlich wieder mehr Spaß macht. Warum? Ich kann nur vermuten, dass dabei (neben der Bequemlichkeit und dem Neuheits-/Gadget-Faktor) ein spielerischer Aspekt eine Rolle spielt, der von einigen Readern ja auch mit Software unterstützt wird, die allerlei Statistiken und wie im Games-Bereich Achievements ausgibt. Doch das spielerische Argument geht meines Erachtens noch weiter: E-Books erlauben es den Lesern und Leserinnen (theoretisch), auf bisher bei Büchern nicht gekannte Art mit dem Text zu interagieren.
Genutzt wird das momentan freilich eher selten, denn das E-Book wird im Augenblick hauptsächlich als elektronische Nachbildung eines „echten“ Buches verstanden und umgesetzt, weniger als ein eigenes Medium.

Eine so radikale Formatänderung geht allerdings vermutlich auf Dauer nicht ohne Rückwirkung auf den Inhalt einher. Und solche Veränderungen treten im Grunde ständig auf: Wenn man etwa an den Fortsetzungsroman in der Zeitung denkt oder noch weiter zurückgeht, stellt man schnell fest, dass Romane nicht immer das waren, was sie jetzt sind, dass sie in unterschiedlichsten Formen und Formaten auftraten. Wenn man ganz konkret die Genregeschichte der Fantasy und SF heranzieht, dann war DAS Medium für phantastische Geschichten vor der flächendeckenden Einführung von Taschenbüchern lange Zeit das Magazin – und die Fantasy in den Magazinen war letztlich auf jeden Fall anders als die, die sich dann in den Taschenbüchern durchsetzte. Ich denke, das ist durchaus auch dem Format geschuldet: Das Taschenbuch bot mehr Platz, es waren längere Geschichten möglich statt nur kurze Häppchen, die in jeder Fortsetzung die Leser und Leserinnen wieder mitnehmen mussten; außerdem hatte ein Autor allein mehr Text zu tragen und war nicht nur ein Beiträger von vielen.
Wir blicken also auf eine lange Geschichte der Veränderungen zurück, und in weniger greifbaren Bereichen ändert sich das Erzählen ohnehin ständig (siehe z.B. den Einfluss von Filmen oder Spielen in Form neuer Erzähltechniken).

Die spannende Frage für mich ist: Was wird das E-Format im Erzählen bewirken?
Dazu kann man sich mit den spezifischen Merkmalen des Formats beschäftigen, damit, was das E-Book vom traditionellen Buch abhebt.

Das E-Book sprengt Kategorien. Zunächst einmal ganz simpel die Kategorie der Länge. Der Printbereich ist genau betrachtet ein enger Käfig für Texte – zu kurz lohnt sich nicht, zu lang wird irgendwann unmöglich. Für einzelne Genres bestehen außerdem häufig bestimmte Längentraditionen, die im Großen und Ganzen eingehalten werden. Das alles spielt beim E-Book keine Rolle mehr: Kurze Novellen, überlange Epen, eine wildes Potpourri aus verschiedenen Texten – grundsätzlich bietet das E-Book die Möglichkeit, Texte zu veröffentlichen, die für den traditionellen Buchmarkt aufgrund von formalen Limits uninteressant sind, und lädt zum Spiel mit viel mehr verschiedenen Textlängen und -formaten ein, als das im Augenblick der Fall ist.

Das E-Book senkt Hürden. Hinz und Kunz können veröffentlichen und müllen ganz zweifellos den Markt zu. Aber auch die künstlerisch ambitionierte Autorin, die bei Verlagshäusern keine Chance hatte, weil die Nische, die sie bedient, zu klein ist, kann das mit vergleichsweise geringen Kosten tun. Dabei bleibt die Fragen: Wer wird sie finden?
Dieses Problem wird sich verschärfen und gibt ein ganz eigenes Thema ab, aber dennoch: Die Vielfalt des Verfügbaren und Machbaren wird sich erhöhen. Im Guten wie im Schlechten ist das E-Book das Buch, das jeder machen kann, egal, wie verstiegen oder verwegen die Idee dahinter ist.

E-Books brechen den Text auf und revolutionieren die Form: Noch wird es nicht im großen Stil genutzt, aber E-Books sind interaktive Texte, sie können grundsätzlich formatiert werden wie Webseiten. Je nach Anzeigequalität des Readers sind Querverweise, Strukturierung, Einbettung von anderen Medien und Gestaltung des Textes auf eine Weise möglich, wie sie im Print nur sehr umständlich oder zu einem hohen Preis realisiert werden können. Im Augenblick stehen wir im Vergleich mit dem Internet noch nicht mal in den 90ern, aber damit schließen E-Books an eine Lesart an, die wir mittlerweile aus dem Netz gewohnt sind.
Darin steckt meines Erachtens ein großes Potential, und zwar nicht nur im – sich natürlich anbietenden – Sachbuchbereich, sondern auch für das Erzählen.
Mit der Möglichkeit der freien Navigation im Buch, eventuell sogar der zufälligen oder lesergesteuerten Anordnung der Inhalte ließe sich z.B. irgendwo zwischen den Polen Abenteuerspielbuch, Rashomon (dem Film) und Calvinos Wenn ein Reisender in einer Winternacht ein Mosaik aus Kapiteln anlegen, die man in jeder Form anordnen kann und deren Querbezüge untereinander jeweils eine etwas andere Gesamt-Geschichte ergeben. Ich möchte sowas nicht schreiben, aber ich würde es sehr gerne lesen. Von profan bis höchst anspruchsvoll ist alles drin. Und das ist erst der Anfang – ich bin sehr gespannt, was Autoren und Verlegern alles einfallen wird, von Cut-Scenes über alternative Enden bis hin zu Kommentaren und anderen Text-Ergänzungen. Inspiration ist überall. Und daran getüftelt wird bereits (z.B. von Hanser-Verleger Jo Lendle in der FAZ)

Dadurch wird die Festigkeit und Einheit des Textes ganz bestimmt löchriger, und die Kontrolle von Autorinnen und Autoren über den Text reduziert.
Das sind neue Voraussetzungen für das Erzählen. Deswegen fände ich am wichtigsten, das E-Book nicht mehr als elektronisches Nebenprodukt oder Zweitvermarktungsweg für Bücher zu begreifen, als billigeres (und evtl. auch defizitäres) Abziehbild des Printbuchs, sondern als neues Medium, das künstlerisch neue Türen öffnen wird.

Ein Kommentar

  • Sehe ich genauso.

    »grundsätzlich bietet das E-Book die Möglichkeit, Texte zu veröffentlichen, die für den traditionellen Buchmarkt aufgrund von formalen Limits uninteressant sind, und lädt zum Spiel mit viel mehr verschiedenen Textlängen und -formaten ein, als das im Augenblick der Fall ist.«

    Der Berliner E-Book-Verlag »Das Beben« ist da ein schönes Beispiel. Der bringt ausschließlich Novellen!, und damit Texte professionell lektoriert und in schöner Aufmachung, die sonst vermutlich nie einen Verlag gefunden hätten.
    http://verlagdasbeben.de/

    Mir macht das Lesen auf dem Reader auch viel Spaß. Es macht die Bücher nicht besser, aber das Lesen irgendwie doch anders. War das Verhältnis bei mir bisher noch 80% Print – 20% E-Book, nähert es sich inzwischen immer mehr der 50-50 Marke an. Hierbei spielen aber auch meine hoffnungslos überfüllten Bücherregale eine Rolle.

    Ich sehe im E-Book vor allem neue Chancen und Möglichkeiten, und nicht den Untergang des Abendlandes.

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