Die Nicht-Erfassbarkeit von Büchern

Wir streamen unsere Filme, und unsere Musik haben wir eigentlich nicht mehr zum Anfassen im Haus, oft nicht mal mehr als Datei. Kunstaktionen finden in Windeseile ein riesiges virtuelles Publikum, Webcomics bauen dynamische Communities auf, über Filmtrailer und neue PC-Spiele redet das halbe Internet.
Aber wo geht es mit dem geschriebenen Wort nun hin, nachdem es langsam doch digitalisiert wird? Dazu möchte ich in den nächsten Tagen mehr schreiben, jetzt jedoch erst einmal ein paar Gedanken vorausschicken, warum sich Bücher (und alle textbasierten Geschichten) mit Musik und Film nicht vergleichen lassen. Und auch nicht mit Comics, die sich mit Büchern immerhin die Eigenschaft teilen, dass man nicht grundsätzlich ein Gerät benötigt, um in ihren Genuss zu kommen.

Bücher lassen sich nicht auf dieselbe Weise erfassen wie Musik, Filme, Bilder oder Comics, und das ist ein Problem, vor allem für jene, die nicht auf die klassischen Vermarktungs- und Verteilungswege setzen und für ihre Texte Leser und Leserinnen finden wollen. Bücher kann man nicht schnell einschätzen, nicht schnell konsumieren, nicht auf Anhieb von ihnen angezogen sein.
Es gibt Versuche, die schnelle Erfassbarkeit zu erhöhen, etwa durch das Herausstellen einzelner prägnanter Zitate, wenn Kurzgeschichten im Web veröffentlicht werden, aber besonders viel ändert das meiner Meinung nach nicht: Der Text bleibt auf den ersten Blick unergründlich. Er sieht immer gleich aus, egal ob sich in den Buchstaben die Tränen eines verschmähten Orks auf Brautschau oder die heraushängenden Kabel eines verschmorten Warpantriebs verbergen, und er spricht nicht zu unmittelbar zu uns.

Das Problem hat man übrigens nicht erst seit der Digitalisierung, und die Methoden der Wahl, um Unmittelbarkeit herzustellen, sind mehr oder weniger schicke Buchcover, mehr oder weniger zutreffende Klappentexte und die allseits beliebten Blurbs – dass das alles höchstens eine Illusion von Erfassbarkeit schafft, wusste man schon seit spätestens 1860. Letztlich sind auch Genre-Bezeichnungen eine Methode, um irgendwie einen Kreis um das zu ziehen, was sich hinter dem Buchdeckel finden könnte. Und trotzdem kauft man immer wieder die Katze im Sack, denn auf die Schnelle durchschaubar ist allein die Verpackung (und die ist logischerweise manchmal auch eine Mogelpackung). Doch seit der Digitalisierung können andere Medien aus ihrer schnelleren Erfassbarkeit so richtig Kapital schlagen, während die Buchwelt sich auf ein unzufriedenes „meh“ beschränken muss.

Das alles macht in einer Ära der kurzen Halbwertszeit aller Ereignisse Leuten, die Geschichten mit Texten erzählen wollen, das Leben schwer. Von den gängigen Verbreitungsphänomenen über Social Networks können Texte nicht auf dieselbe Weise profitieren wie alles, was einen visuellen Eindruck vermitteln kann (Comics, Kunst, Filme) oder sehr schnell erkennen lässt, ob man es grundsätzlich mag oder nicht (Filmtrailer, Musik). Bücher kann man nicht mal eben zwischendurch einschieben, und da es so viel gleichzeitig zu sehen gibt und man nichts verpassen möchte, ziehen sie leicht den Kürzeren.

Was also tun? Meistens ist es nicht gut, einfach etwas nachzumachen, was andere besser können. Man kann einen Roman nicht aufbrechen, sein Innerstes nach außen kehren und in maximal 3 Minuten sichtbar machen (was vielleicht auch beim Film oder bei Musik eine Illusion ist, aber zumindest eine, die leidlich funktioniert). Manche Geschichten – vermutlich die, für die sich die Form längerer Texte besonders gut eignet – brauchen mehr Verbindlichkeit, mehr Hingabe. Es geht nicht immer ultrakurz und häppchenweise, sonst fehlt irgendwann etwas.
Social Reading (ob nun in Buchcommunities oder beim Lesen von Anmerkungen anderer Leute im eBook) wird durchaus als zukunftsträchtige Möglichkeit angesehen, aber ich bin noch nicht ganz überzeugt – für mich ist Lesen trotzdem in erster Linie eine Sache zwischen mir und dem Text und kann erst in zweiter Instanz zu etwas Sozialem werden, weil ich ihn ja erst einmal erfassen muss, bis ich darüber reden kann (am allerbesten mit Leuten, die diesen Prozess auch schon hinter sich haben).
Aber was dann im Zeitalter von tl;dr?

7 Kommentare

  • Sehr interessante Überlegungen! Könnte es zusätzlich noch sein, dass dieser Wunsch nach schneller Erfassbarkeit abgesehen von dem Nachteil, den er für Bücher allgemein bedeutet, auch mit in die Beliebtheit oder Unbeliebtheit bestimmter Erzählweisen hineinspielt, mithin also neben anderen Faktoren erklären kann, warum derzeit wohl vor allem diejenigen Bücher populär sind, die eine Illusion von Unmittelbarkeit schaffen, einem also das Gefühl eines sofortigen “Dabeiseins” einflößen, das man sich nicht erst mühsam erarbeiten muss?

  • Interessante Gedanken, und im Großen und Ganzen würde ich dir auch zustimmen. Ganz einverstanden bin ich allerdings nicht mit deinem Gegenüberstellen von Buch und Film.
    Das Primat der “schnellen Erfassbarkeit” zwecks Vermarktung stellt meiner Ansicht nach nämlich auch für den Film ein immer größeres Problem dar. Ganze Filme scheinen inzwischen mit dem Hintergedanken gedreht zu werden, dass man einen möglichst eindrucksvollen Trailer aus ihnen zusammenschneiden können muss. Das ist natürlich etwas übertrieben ausgedrückt, aber der Trend ist eindeutig vorhanden. Und das verstärkt die ohnehin schon existierende Tendenz zu immer größerer Oberflächlichkeit und Effekthascherei.
    Es gibt genug Filme, die man nicht nach wenigen Minuten einzuschätzen vermag. Oder besser ausgedrückt: Es wäre falsch, wenn man dies tun würde. Ähnlich wie ein Buch verlangen auch sie Hingabe. Man muss sich auf sie einlassen, sich mit ihnen auseinandersetzen. Und solche Filme haben es unter den aktuellen Verhältnissen gleichfalls immer schwerer.

  • Das Problem scheint mir ja zu sein, dass durch immer schneller herstellbare Genusserfahrungen im medialen Bereich das Belohnungssystem des Gehirns daran gewöhnt wird, nicht mehr warten zu müssen. Das Buch sperrt sich da, weil es eben nicht so schnell erfassbar ist, und wenn möglichst schnell Glückshormone ausgeschüttet zu bekommen (und Unlustgefühle um jeden Preis zu vermeiden) zum Ziel des Tuns geworden ist, ist eine längere und kompliziertere und ungewöhnlichere Geschichte klar im Nachteil. Der Genuss kann zwar um ein Vielfaches höher sein – aber eben erst später oder auf einer anderen Ebene, und vielleicht kommt er auch gar nicht.
    Das Belohnungserwartungssystem – die Vorstellung, dass die Belohnung für etwas kommt – ist natürlich außerdem bei der Vorstellung, eine Lektüre zu kaufen, die der ähnelt, die mich schon mal “glücklich” gemacht hat, leichter zu aktivieren.
    Und da außerdem Gemeinsamkeit und soziales Aufgehoben-Sein zentrale glücklich machende Grunderfahrungen sind, wundert es mich nicht, dass viele am liebsten das kaufen, bei dem sie mitreden können.
    Ob es Möglichkeiten gibt, schneller zu vermitteln, was das glücklich machende Moment des Buches XY ist – keine Ahnung. Unklare Blurbs oder Klappentexte oder Cover, die nur zum Kauf animieren sollen, ohne wirklich zu halten, was sie versprechen oder zu dem passen, was drin steht, nur um irgendwelche Leute zum Kauf zu bewegen, sind da sicher nicht gerade förderlich. Ich denke da an die Elliott, bei der ständig auf dem Klappentext was von Romance stand, dabei ist das wirklich ein zwar sehr schön umgesetztes, aber zugleich der eigentlichen Geschichte untergeordnetes Thema.
    Vielleicht wäre Ehrlichkeit bei dem, was hinten drauf steht und wie ein Roman beworben wird, mal ein Anfang.

  • Völlig klar! Und natürlich fällt mir da auch keine Lösung ein.
    Hinzu kommt meiner Meinung nach noch, dass es nicht die ausschließliche Aufgabe von Kunst (seien es nun Bücher, Filme, Comics, Musikstücke) sein sollte, Glücksgefühle hervorzurufen. Einige der besten Filme, die ich kenne, haben mich vielmehr ziemlich kaputt zurückgelassen.

  • @Peter, deinem ersten Einwand stimme ich völlig zu – das meinte ich auch damit, dass das schnelle Sichtbarmachen möglicherweise auch beim Film eine Illusion ist.

    Die “Belohnung” an sich kann ja erst mit dem Inhalt kommen, denke ich, genauso wie die Annahme/Ablehnung bestimmter Erzählstile, wie Maike es erwähnt hat. Wahrscheinlich bestehen da aber schon Zusammenhänge, die Präferenz fürs schnell Erfassbare ist ja nicht weg, nur weil ich dann wirklich im Kino sitze/das Buch aufschlage …

    Allerdings bin ich wirklich ratlos bei dem Gedanken, dass ein Text häufig gar nicht erst so weit kommt. Richtig viral werden textbasierte Geschichten eigentlich doch erst, wenn es eine Verfilmung gibt (GRRMs Red Wedding kennt jetzt jeder, aber nur wegen der Serie). Und das wiederum führt noch mehr dazu, dass es halt einige wenige große Sachen gibt und sonst nicht viel.

    Rezensionen sind übrigens mE auch noch so ein (indirekter) Weg, etwas schneller erfassbar zu machen.

  • Meine zweite Bemerkung bezog sich natürlich nicht auf deinen Post, sondern auf Susannes Kommentar.

    Und das besondere Problem, das Bücher in Bezug auf “Unmittelbarkeit” haben, sehe ich genauso wie du. Ich wollte halt nur darauf hinweisen, dass auch so scheinbar “unmittelbare” Kunstformen wie der Film unter dieser Entwicklung zu leiden haben.

    Und die “Lösungsversuche”, die es da bisher gibt, wirken auf mich oft eher nicht so toll. So finde ich z.B. “Buch-Trailer” meist eher lächerlich. Das sind nach meiner Erfahrung bloß zu einem mehr oder weniger amateurhaften Videoclip verarbeite Klappentexte & Blurbs.

  • @Peter, ja, das sehe ich genauso. Viele Bücher und Filme, die mich beeindruckt und auch irgendwie weitergebracht haben, haben erst einmal genau das Gegenteil von Glücksgefühlen erzeugt.
    @Simone: es scheint so zu sein, als wenn das Belohnungssystem bereits in Kraft tritt, wenn man sich z.B. etwas kauft, das die Belohnung zu bieten verspricht;-). Das könnte übrigens vielleicht auch erklären, warum manche Menschen so verärgert sind, wenn sie feststellen, dass das, was sie zu bekommen glaubten, dann doch nicht das ist …
    Rezensionen sind sicher ein guter Weg, vor allem, wenn man die Person einschätzen kann, die die Rezis schreibt. Dann ist es sogar fast egal, ob man mit ihr übereinstimmt oder nicht – solche Rezis bieten dann einfach Orientierung.

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