Wenn ein Buch einen Leser oder eine Leserin für sich einnehmen will, muss es sich mit einer Menge Konkurrenz herumschlagen – nicht einmal in erster Linie, wie Amelia Beamer in diesem Artikel (über das kostenlose Verfügbarmachen eigener Werke) schreibt, in Form von anderen Autoren, sondern weil es sich gegen sämtliche Interessen, Ablenkungen, Beschäftigungen der Leser durchsetzen muss. Im Kampf um das knappe und kurzlebige Gut der Aufmerksamkeit ziehen Bücher (wie hier erörtert) schnell den Kürzeren.
Um überhaupt eine Chance zu haben, müssen Autoren und Autorinnen herausfinden, welche Faktoren die Aufmerksamkeit aktivieren – wann man unbedingt in etwas hineinschmökern will. Wie findet ein Buch zu seinen Lesern? Solange dem Buch keine Beine wachsen, muss zunächst der Leser dazu animiert werden, das Buch zu finden.
Es gibt darauf eine gängige Antwort der Buchverlage, und die heißt: Anknüpfen an Trends. Über Cover-Gestaltung und Klappentext wird versucht, Leser mit der Behauptung zu locken, etwas wäre ganz ähnlich wie etwas anderes (das viele Leser gut finden). Trendthemen aus den audiovisuellen Medien und dem aktuellen Weltgeschehen werden durchgenudelt.
Über diese oberflächliche Konformität hinaus besteht auch eine tiefergehende. Das Endprodukt wirkt oft nach dem Prinzip des kleinsten gemeinsamen Nenners für die größte mögliche Leserschaft konzipiert. Das Buch soll ein bisschen auffallen, aber niemandem wehtun, niemanden zu sehr fordern, niemanden aus seiner Komfortzone holen. Das führt zu lustigen Spagaten zwischen dem Anspruch, ein ganz, ganz besonderes Werk vorzulegen, und der Garantie, dass man sich damit aber bestimmt auf nichts zu Ausgefallenes einlässt.
Selbst wenn also im einzelnen Buch durchaus Herzblut steckt, präsentiert sich der Buchmarkt in seiner Gesamtheit als Riege durchdesignter, austauschbar wirkender Wälzer, für die vielleicht am ehesten spricht, dass der Stapel, auf dem sie liegen, fast bis Augenhöhe reicht. Das wird aber der Art, wie wir uns Büchern annähern, gar nicht gerecht, wenn man Beamers Kernaussage betrachtet:
Ich glaube, Leute suchen sich die Bücher, die sie lesen, ganz so aus, wie sie sich auch ihre Freunde aussuchen. Das Buch muss interessant sein, und man muss darüber stolpern, so dass die Aufmerksamkeit geweckt wird. Eine Empfehlung aus vertrauenswürdigem Mund ist der Sache förderlich.
Die Freundschafts-Analogie würde bedeuten, dass der Weg des Buches zum einzelnen Leser so individuell und vielfältig ist wie der Weg von Menschen zueinander, und dem kann klassisches Marketing niemals richtig gerecht werden. Bestseller wären in diesem Bild vielleicht so etwas wie Promis, die überall präsent sind und mit denen man sich fast zwangsweise befassen muss, um zu sehen, ob was dran ist an ihrer Popularität (oder um zumindest fundiert lästern zu können).
Ab vom Promi-Zirkus muss man Menschen allerdings erst einmal begegnen, bevor sich entscheidet, ob daraus eine Freundschaft werden kann, und da man mit Büchern nicht beim Sport, im Mathekurs oder in einer Bar in Interaktion tritt, muss vor der näheren Auseinandersetzung mit einem Buch eine Begegnung stehen. Das heißt, ein Buch auf der Suche nach Freunden sollte dort auftauchen, wo sich Leser herumtreiben: Das kann im Laden sein, im Buchregal eines Bekannten, in einer Rezension, einer Anzeige, einer Bestsellerliste oder einem anderen Rating, bei einer Preisverleihung, in einem Verlagsprogramm. Irgendwie muss das Buch signalisieren: „Hallo! Mich gibt’s! Schau doch mal her!“
Beim Freundefinden gibt es ja diese Sache mit dem ersten Eindruck, der angeblich innerhalb weniger Sekunden über „top“ oder „flop“ entscheidet. Beim Buch ist das Cover der einzig verfügbare visuelle Reiz. Wie wir aber alle wissen, bietet ein ansprechendes Äußeres nicht die geringste Garantie, dass sich dahinter nicht Schrott verbirgt – deshalb können Bücher auch mit einer Aussicht auf innere Werte punkten. Ein Befassen mit Klappentext und Leseprobe erfordert jedoch bereits ein gewisses erstes Wohlwollen.
Diese anfängliche Sympathie herzustellen, bevor man überhaupt die Gelegenheit hat, jemanden mit dem Charakter und Innenleben eines Buches zu überzeugen, liegt nur begrenzt in der Macht des Autors. Beamers Vorschlag ist das kostenlose Verfügbarmachen, „damit möglichst viele Menschen die Gelegenheit erhalten, sich mit dem Buch anzufreunden“. Wir sind aber vermutlich längst an einem Punkt, an dem Lesezeit die eigentliche Währung ist, die verhandelt wird, deswegen ist mit „kostenlos“ noch nicht viel gewonnen.
Mundpropaganda in der Form von persönlichen Empfehlungen und Rezensionen oder des allerseits angestrebten „buzz“ (der Tatsache, dass eine Information verstärkt durch’s Internet schwirrt) legt den Lesern sehr effektiv neue Freunde ans Herz, erfordert aber auch, dass schon ein paar erste Kumpels existieren, die diese Empfehlungen aussprechen. Eine gute Möglichkeit können Synergieeffekte aus Autorennetzwerken sein: Mit Freunden von Freunden hat man womöglich eine gemeinsame Basis, oder, anders ausgedrückt, was einem Autor gefällt, den ich mag, ist vielleicht einen genaueren Blick wert.
Denn erst dann, nach diesem genaueren Blick, kann der zweite Schritt erfolgen: die Entscheidung, ob man mal etwas zusammen unternimmt, etwa einen schönen gemeinsamen Abend auf der Couch.
Erst beim genauen Hinschauen wird der Leser eine Ahnung bekommen, ob er mit dem Buch auf einer Wellenlänge ist – ob es gemeinsame Interessen und Übereinstimmungen gibt. Oder ob das Buch ein Freund von der Sorte ist, die man schätzt, weil sie einem gut Contra geben und neue Gedanken einbringen. Dann liegt es endlich am Werk selbst, zu überzeugen, während vor diesem Schritt Präsenz, Präsentation und Propaganda das Sagen haben.
Kein Kommentar